Chefsache Digitaler Wandel - Silicon Valley verändert Dresscode in der Finanzbranche

Ein Artikel von Lothar Lochmaier, Fachjournalist, Berlin | 19.12.2019 - 11:47
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Schlips und Kragen gehören mehr und mehr der Vergangenheit an 

Rückblende – es war gerade kurz vor der Jahrtausendwende: Als ich in einem Businesshotel in New York Manhattan abstieg, wunderte ich mich, dass dort so gut wie alle Geschäftsleute schon beim Frühstück in legerer Jogginghose und Baseballmütze aufwarteten. Vermutlich waren auch damals schon ein paar IT-Millionäre darunter.

Ganz schön konservativ hielten und halten es im Gegensatz dazu wir Deutschen, dachte ich damals, und nahm eher beiläufig zur Kenntnis, dass die nachlässige Kleiderordnung amerikanische Erfolgsmenschen offenbar nicht daran zu hindern schien, auch im Freizeitoutfit gutes Geld zu verdienen.

Zwei Jahrzehnte später: Dass dem immer noch so ist, führt uns direkt ins Jahr 2019. Die Gründer von Apple, Google und Co. zeichnen sich nicht gerade durch Krawatte und Nadelstreifenanzug aus, verdienen aber trotzdem Milliardensummen. Jetzt aber schwappt der legere Businesstrend über. Kritische Zeitgeister würden dies vielleicht „effortless perfectionism“ nennen.

Gerade bei der auch äußerlich bzw. kleidertechnisch bis dato extrem auf Seriösität bedachten Finanzbranche – schließlich dreht sich dort alles um das anvertraute Geld der Kunden – schien es bis vor kurzem undenkbar, dass sich der äußere ­Habitus ändern könnte. Schließlich war und ist Vertrauen das wichtigste Kapital, das durch falsches oder nachlässiges ­Auftreten rasch verspielt werden kann.

Business Casual etabliert sich

Kurz: Ohne Anzug, seriöses Hemd und Krawatte kamen bislang allerhöchstens Mitarbeiter aus dem IT-Backoffice aus, die keinen direkten Kundenkontakt pflegen. Für Kundengespräche oder Verhandlungen aber mit wichtigen Partnern schien die strenge Kleideretikette auch weiterhin in Stein gemeißelt.

Seitdem jedoch Startups und die Plattformökonomie immer mehr Bereiche der Wirtschaft umkrempelt, wackeln viele alt hergebrachte Regeln. Das Silicon Valley hat hier definitiv neue Standards gesetzt, seitdem zahlreiche Mit­zwanziger durch die erfolgreiche Gründung von Internetunternehmern in kurzer Zeit zu Millionären, manchmal sogar zu Milliardären, aufgestiegen sind.

Der rasante Wandel wird spätestens dann zum neuen allgemeinen Kulturgut, wenn – wie bereits der Fall – eine der weltweit führenden Investmentbanken, Goldman Sachs, in diesem Jahr persönlich durch ihren Chef David Salomon verkünden ließ: Schlips und Kragen im Unternehmen gehören ab sofort der Vergangenheit an.  

Von den weltweit immerhin rund 28.000 Mitarbeitern wird fortan lediglich erwartet, sich „angemessen zu kleiden“, so wie es eben im jeweiligen Arbeitskontext den Erwartungen der Kunden entspräche. Das klingt zwar vage, auf den zweiten Blick dennoch fast revolutionär, ist aber bei genauem Hinsehen eher als cleveres, PR-strategisches Manöver zu werten.

Denn warum sollten global operierende Konzerne sich gegen eine Entwicklung stemmen, die ohnehin nicht aufzuhalten sein wird? Besser ist es, mit der Zeit zu gehen, als gegen sie anzukämpfen. Sie erinnern sich? Damals im Jahr 1989: Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte.

Neue Kleider für neue Banken

So ähnlich geschichtsbewusst verhält es sich auch in der Finanzbranche, die sich längst des Potenzials der Startups bedienen, um ihr eigenes Ökosystem zu modernisieren. Da passt es perfekt ins Bild, sich auch äußerlich als Finanzinstitut auf Augenhöhe der Zeit zu präsentieren.

Und genau deshalb verwundert es kaum, dass ein Branchenprimus wie Goldman Sachs auf die gängige Kleiderordnung verzichtet. Denn dies scheint tatsächlich kaum mehr notwendig, weil die dezentralen Abteilungen schon selbst wissen, wie sie sich angemessen kleiden. Es greift also in dieser Frage das Gestaltungsprinzip Open Banking.

Längst ist es zum Erfolgsgeheimnis geworden, die Prinzipien aus der Neujustierung der Informationstechnologie auch auf die gesamte Prozesskette zu  übertragen. Dezentrale Techniken und Tools aus dem Agilen Projektmanagement – wie Scrum oder Kanban – beeinflussen eben das äußere Erscheinungsbild, weswegen starre Konventionen auf ihre jeweilige Praxistauglichkeit zu überprüfen sind.

Inhalte zählen

Es ist allerdings kaum zu erwarten, dass sich nun eine neue Standardkleidung in Richtung Kapuzenpulli, Hoodie, Sneaker und lässiger Jeans etablieren wird. Denn letztlich geht es bei dieser Frage weniger um das Zugeständnis in Richtung Work-Life-Balance der Angestellten – wie es vielleicht zur Jahrtausendwende noch beim Casual Friday der Fall war – sondern letztlich dreht sich alles um das Thema Prozessoptimierung.

Mit anderen Worten: Je nachdem, wie das persönliche Arbeitsumfeld beschaffen ist, sollte sich eine Bank entsprechend breit aufstellen. Wenn es beispielsweise darum geht, eine jüngere, Smartphone-affine Kundenklientel adäquat anzusprechen, dann empfiehlt sich eine lockere Arbeitskleidung; wenn es andererseits darum geht, etwa bei der Vermögensverwaltung um seriöses Kundenvertrauen zu werben, dann sind die beiden passenden Optiken der Mitarbeiter schon benannt.

Es gilt also in dieser Frage – vor allem anderen – auf Stil, Contenance und Stimmigkeit zu achten, um nicht übers Ziel hinaus oder daran vorbei zu schießen. Weder sollte ein seriöses Finanzinstitut den Eindruck erwecken, die Kleider­ordnung nun, wie das gesamte Geschäftsmodell, durch übertriebenes Anbiedern an den Zeitgeist, zu kannibalisieren. Noch wäre andererseits das strikte Festhalten am alten, formalistischen Dresscode gleich als besessene Besitzstandswahrung zu betrachten.

Scharfer Wettbewerb um High Potentials

Überhaupt ist die Thematik vom passenden Dresscode weit vielschichtiger als es die bloße Kleiderordnung andeutet. Denn Arbeitgeber aus der Finanzbranche konkurrieren weltweit um die besten Mitarbeiter, und die bewegen sich in den Business Inkubatoren gerne so bequem wie möglich. Die Hauptsache, das Arbeitsergebnis stimmt, so das neue Credo: Das Prinzip der zeitlichen Anwesenheit beim Arbeitgeber oder blinden Unterordnung ist so gesehen ein Relikt aus der „Old School Economy“. Doch die Smart Casuals, die High Tech Performer und Technologievisionäre wissen dennoch genau darüber Bescheid, welcher Dresscode sich wozu eignet. Man muss sich das Understatement der Kapuzenpullis definitiv auch leisten können, wenn die Performance eben stimmt. Spätestens wenn man bei einer diffizilen geschäftlichen Verhandlung ernst genommen werden will, kann es jedoch ratsam sein, sich kleidertechnisch auf Augenhöhe zum Gegenüber zu gewanden. Die Form bestimmt den Inhalt durchaus mit.

Allzu leicht könnte sonst der schwungvolle Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin einer Bank versehentlich mit dem Praktikanten oder der Praktikantin – statt der dynamischen jungen Führungskraft – verwechselt werden. In diesem Fall würde man mit der neuen Kleiderordnung auch das Kind mit dem Bade ausschütten.

Fazit

Schaut man sich die neuen FinTech-Hubs dieser Welt an, so wird deutlich, dass der Erfolgsschlüssel für neue Outperformer nicht in der Kleiderordnung liegt. Sondern in der Fähigkeit, sich selbst und die eigene IT-Infrastruktur rasch und flexibel an die sich wandelnden Marktgegebenheiten und Kundenbedürfnisse anzupassen. Letzten Endes also wird die Kartoffel selten so heiß gegessen wie gekocht. Und damit wären wir am Ende wieder bei der intelligenten PR-Variante. 

Da heute über die sozialen Medien rund um die Uhr neue Bilder und Videos von jeder Person und jeder Firma in Echtzeit im Netz landen, gilt umso mehr die bewährte Regel beim Reputationsmanagement. Das Bestreben ums zeitgemäße Styling der Mitarbeiter sollte demzufolge nichts herbeiführen, was dem eigenen Image nicht zuträglich ist. Ab und an kann man trotzdem ein wohl  kalkuliertes Risiko eingehen, um den in der Gesellschaft bereits akzeptierten Modetrends zu folgen. So gesehen steht am Ende der sinnvolle Kompromiss zwischen den Extremen „Lockerheit“ und „Strenge“.