Es besteht kein Zweifel daran, dass steter Wandel bis hin zu disruptiven Änderungen zum neuen Alltag für Finanzdienstleister gehört. Der Niedrigzins ist die Realität und nicht mehr nur eine Phase. Die Coronakrise zerstörte hier die letzten Hoffnungen auf ein baldiges Ende und vergrößert darüber hinaus den Druck, Prozesse kontaktarm, sprich digital abzubilden. Zudem treiben Regulatorik und digitale Innovationen die Institute dazu, ihre internen Prozesse anzupassen und auf Effizienzreserven abzuklopfen
Ein chirurgisch präzises Tool
Das „Gewusst wo“ wird dabei zu einem Schlüsselfaktor für den Erfolg der Effizienzsteigerungen. Denn nur wenn an den richtigen Schrauben gedreht wird, kann sich eine zufriedenstellende Wirkung entfalten. Process Mining ist hier ein Königsweg, diese Stellen zu finden. Mit dem hier zugrundeliegenden Bottom-up-Ansatz lassen sich Daten und Prozesse identifizieren, aufbereiten, auswerten, darstellen und nutzbar machen. Process Mining kann dabei als Synthese aus Data Mining, Business Process Management (BPM) und Workflow-Management verstanden werden. Die Methode ermöglicht eine saubere Root-Cause-Analysis, die die Basis für nachhaltig bessere Prozesse bildet. Damit ist Process Mining klar dem bisherigen BPM-Vorgehen überlegen, bei dem Prozesse anhand von KPIs beurteilt werden. Dieses ermöglicht zwar die Betrachtung einer Gesamt- oder Teilprozessperformance, die Identifizierung der tatsächlichen Pain-Points ist aber schwierig beziehungsweise sehr aufwändig. Mit Process Mining sind entschieden punktgenauere Ergebnisse zu erzielen.
Diese Präzision ermöglicht eine Analyse von Prozessen aus folgenden Blickwinkeln:
- Process-Discovery umfasst das Erfassen und Darstellen des Ist-Prozesses. Die Ausrichtung der Auswertungen ist dabei abhängig von der verfügbaren Datenbasis. Dies können beispielsweise Prozessmetriken wie Durchlaufzeiten sein. Eine Identifizierung von Bottlenecks ist dabei aber nicht auf reine Prozessmetriken beschränkt. Auch fachlich getriebene Auswertungen – abhängig von den verfügbaren Informationen – sind möglich.
- Process-Conformance bewertet die Übereinstimmung des identifizierten Ist-Prozesses mit erwarteten Soll-Prozessen.
- Process-Enhancement leitet die Verbesserung des Prozesses auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse ein.
Prozess Mining in der Praxis
Ein aktuelles Anwendungsbeispiel für Process Mining stellt die Vergabe von Hypothekendarlehen im Banken- und Versicherungsumfeld dar. In diesem, oft durch manuelle oder hybride Prozesse gekennzeichneten Kreditgeschäft, hat sich der Druck, Effizienzreserven zu heben, deutlich verstärkt. Denn der Boom im Immobiliensegment zeigt inzwischen Brüche: Es gibt eine Verlangsamung des Preisanstiegs bei Immobilien. Darüber hinaus sinken Bauzinsen, Renditen sowie der Bedarf an Immobilien in Citylage. Bei Büroimmobilien wird durch die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch langfristig gestiegene Bedeutung von Homeoffice mit einer Dämpfung der Nachfrage zu rechnen sein. Darüber hinaus schafft die Coronakrise Bedarf an neuen digitalen Vergabeprozessen und Prüfroutinen, etwa durch die entstandenen Probleme bei der Besichtigung von Immobilien oder auch bei Notarterminen. Dies alles macht Kostensenkungen sowie Prozessanpassungen und -optimierung für Finanzdienstleister im Real-Estate-Umfeld zum Gebot der Stunde.
Process Mining ermöglicht diesen Unternehmen eine Visualisierung der tatsächlich durchgeführten Prozesse. Die Methode macht Durchlaufzeiten und Bottlenecks sichtbar, sodass Nutzer gezielt Optimierungspotenziale erschließen können. Die Analyse des Prozesses bringt unterschiedlichste Fragestellungen hervor:
Sind die Schwachstellen aufgedeckt, können Banken und Versicherungen geeignete Optimierungsmaßnahmen identifizieren, diese dann selektieren und schließlich umsetzen. Ob die Fragestellungen erfolgreich bearbeitet wurden, klärt dann eine erneute Analyse mittels Process Mining. Dieses Vorgehen ist äußerst effizient. Der Impact kommt genau am jeweiligen Pain-Point an und kann eindeutig beziffert werden. Es gibt keine Wechselwirkungen mit anderen Faktoren wie im Fall der Messung an Gesamtprozess-KPIs. Im Ergebnis etablieren Anbieter von Hypothekendarlehen effizientere und sicherere Prozesse, welche dem Unternehmen langfristig viel Geld sparen können.
Da Daten der Treibstoff für Process Mining sind, ist die Identifikation und Aufbereitung der prozessrelevanten Informationen aus den jeweiligen Vorsystemen die größte Herausforderung für dessen Einsatz. Dies gilt umso mehr, da die Systemlandschaft bei Banken und Versicherungen wesentlich heterogener als beispielsweise im Einzelhandel ist, was die Datenbeschaffung nicht erleichtert.
Ausgangspunkt für den Einsatz von Process Mining ist die Sammlung einzelner Prozessschritte. Diese Kollektion wird als Event-Log bezeichnet. Ein Event-Log benötigt mindestens diese vier Attribute, welche auch als Digitaler Footprint bezeichnet werden:
- Event als Aktivität eines Prozesses zu einer bestimmen Zeit.
Wird beispielsweise eine Rechnung erstellt, können die entsprechenden Transaktionsbuchungen (Rechnung einbuchen, Wareneingang einbuchen) Events darstellen. Auch Vorgänge, die keine Transaktionen sind, wie die Genehmigung einer Bestellung oder die Löschung einer Position in einer Bestellung, können sogenannte Events sein.
- Case als Identifikation (Case ID) des analysierten Prozesses.
Ausgehend vom obigen Hypothekenbeispiel könnte etwa die Darlehensnummer als Vorgangsnummer eine Case ID sein.
- Timestamp oder Zeitstempel zeigt Beginn, Dauer und Ende eines einzelnen Events.
Dieses Attribut ermöglicht, Abläufe zeitbezogen abzubilden. Dabei müssen je Event mindestens zwei Zeitstempel – Anfang und Ende – vorliegen.
- Ressource oder Arbeitskraft löst den einzelnen Event aus.
Mit dem Bezug auf den Bearbeiter können Verantwortungsbereiche aufgezeigt werden. So macht Process Mining beispielsweise Kompetenzüberschreitungen oder Ressourcenknappheit bei einzelnen Abläufen sichtbar.
Dabei gilt: je mehr, desto besser. Je mehr Attribute im Event-Log vorhanden sind, desto vielfältiger gestalten sich die fachlichen Analysemöglichkeiten abseits der Prozessmetriken.
Viele Wege der Datenaufbereitung
So verschieden wie die einzelnen Ausgangsdaten sieht in der Praxis auch deren Aufbereitung aus. So müssen die Anzahl und Art der in den Prozess involvierten IT-Systeme und Datenquellen ebenso berücksichtigt werden, wie der Grad der Datenkonformität bezogen auf die Anforderungen etwa an Event-Logs.
Hinzu kommt bei der Datenaufbereitung noch die Frage, welche Ausbaustufe des Process Minings wirtschaftlich und sinnvoll ist. Die Bandbreite ist beachtlich: Am unteren Ende reichen Desktop-Anwendungen für die statische Analyse von Event-Logs aus. Die Basis für den Datenimport bilden dabei Excel- oder .csv-Dateien. Das obere Ende der Möglichkeiten markieren cloudbasierte Plattformen mit einer Direktanbindung von Datenbanken in Echtzeit und vielfältigen Onboard-Möglichkeiten. Diese reichen von Datentransformation, Staging, Dashboards bis zu einem integrierten Business Activity Monitoring (BAM).
Der Aufwand der Datenaufbereitung variiert entsprechend stark je nach Rahmenbedingung. Um hier mehr Handlungssicherheit zu gewinnen, empfiehlt sich zunächst eine Verprobung – Proof of Concept (PoC) – an einem einfachen Szenario. Anwender können diese Anordnung anschließend skalieren – ganz flexibel je nach Bedarf.
Alle diese Eigenschaften machen Process Mining nicht nur für sich genommen zu einem wertvollen Instrument. Es hat auch als Ergänzung zu anderen geschäftsprozessgetriebenen Vorhaben seinen Mehrwert, etwas als starker Hebel im Themenfeld Prozessautomatisierung/Robotergesteuerte Prozessautomatisierung (RPA). Denn Process Mining ermöglicht:
- Identifizierung von Automatisierungspotenzialen (wie im Beispiel Hypothekendarlehen)
- Bessere Abschätzung des durch Automatisierung zu erzielenden Return on Investment (ROI)
- Auswertung der Effekte beziehungsweise Monitoring der automatisierten (Teil-) Prozesse
Process Mining kann in diesem Kontext zudem einer der wesentlichen Treiber der Hyperautomation sein, indem es eine Art datengetriebene Klammer um die eigentliche Automatisierung herum bildet.
Hyperautomation wird von Gartner als erster Punkt in der Liste der Top 10 Strategic Technology Trends für 2020 gesehen. Andere IT-Marktforscher und Analysten sehen diesen Trend ebenfalls, benennen ihn nur anders: So nennt Forester ihn „Digitale Prozessautomatisierung“ und IDC „Intelligente Prozessautomatisierung“. Gemeint ist die nächste Ausbaustufe der Automatisierung, insbesondere die Erweiterung des Automatisierungsbegriffs auf einen vieldimensionalen Prozess (discover, analyze, design, automate, measure, monitor, reassess). Mit Process Mining kann ein wichtiger Schritt in diese zukunftweisende Richtung gegangen werden.