Serie: Nachhaltigkeitsrisiken richtig einordnen

Die Modellfrage

Ein Artikel von Thomas Maul, Manager bei der PPI AG | 11.01.2021 - 15:48

Lesen Sie hier Teil 1: Risikodefinition und potenzielle Auswirkungen auf die weiteren Risikoarten

Lesen Sie hier Teil 2: Abbildung von Nachhaltigkeitsrisiken in der Risikoorganisation und der Risikostrategie

Teil 3: Praktische Überlegungen – Scoring-Modell und Stresstests

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Thomas Maul, Manager bei der PPI AG © Michael Schmitt

Fast jeder Smartphone-Nutzer hat auf seinem Gerät eine Wetter-App. Der Markt dafür bietet genügend Auswahl, um auch individuellere Wünsche zufrieden zu stellen. Interessant wird ein Vergleich der Anwendungen zu einem fixen Zeitpunkt am exakt gleichen Ort. Denn die Vorhersagen weisen teils erhebliche Unterschiede auf. Die Ursache ist schnell gefunden: Die Programme verwenden verschiedene mathematische Wettermodelle für ihre Prognosen, die durchaus voneinander abweichen können. Welche App, welches Modell für die Berechnung des Wetters in der Zukunft am besten geeignet ist, hängt von vielen Faktoren ab, von der geografischen Lage bis zur gewünschten Genauigkeit.

Fehlende Standards

Finanzdienstleister stehen vor einem ähnlichen Problem, wenn sie künftig ESG-Risiken hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Kapital, Ertrag und Liquidität bewerten sollen. Und sie müssen sich mit dem Dilemma auseinandersetzen, dass es für diese Fragestellung noch keinen Marktstandard gibt und die Datenlage dürftig ist. Vor der Entscheidung, wie ein Modell aussehen könnte, muss zunächst eine Klassifizierung möglicher Risiken in „unvermeidbar“, „bewusst in Kauf zu nehmen“, „tolerierbar“ und „inakzeptabel“ vorgenommen werden. Dieser Prozessschritt ist aus anderen Risikoarten bekannt und längst eingeübter Teil der Gesamtbanksteuerung. Außerdem ist neben der sachgerechten Beachtung der einzelnen Folgen physischer und transitorischer Risiken eine Unterscheidung nach Intensität und Zeitpunkt, respektive Zeitraum einer eventuellen Risikomanifestation notwendig.

Grundlagen schaffen

Zum Einstieg in die tatsächliche Quantifizierung der ESG-Risiken in den Risikoarten ist die Implementierung eines ESG-Masterkatalogs in Form eines Templates sinnvoll. Trotz fehlender regulatorischer Standards existieren am Markt einige Ansätze beziehungsweise Blaupausen zur Orientierung. Beispiele sind die EU-Taxonomie-Verordnung sowie die mittlerweile im Fondsgeschäft verbreiteten ESG-Ratings namhafter Anbieter.

Die Erstellung eines institutsspezifischen ESG-Master-Scores beginnt mit der Identifikation der notwendigen Indikatoren für „E“-, „S“- und „G“-Risiken. Dabei müssen die verschiedenen Aspekte der physischen und transitorischen Wirkung Berücksichtigung finden. Allerdings sind die Risikoindikatoren zwischen den einzelnen Kundengruppen und Produkten von verschiedener Relevanz. Beispielsweise dürften Governance-Faktoren bei einem Unternehmenskredit eine erhebliche Rolle spielen, während sie bei einem privaten Immobilienkredit praktisch außen vor bleiben. Daher ist die Bildung von Subscores sinnvoll, aus denen sich erst im Anschluss ein ESG-Gesamt-Score für ein bestimmtes Produkt oder ein Portfolio ergibt.

Mögliche Indikatoren

Beispiele für Indikatoren in den einzelnen Unterkategorien sind

- bei Environment-Risiken:

  • Beeinflussung durch Klimawandel und Klimaänderungsfolgen
  • Verwendung von und Umgang mit natürlichen Ressourcen
  • Verschmutzung der Umwelt
  • Beitrag zur Abfall- beziehungsweise Kreislaufwirtschaft
  • Entwicklung von entsprechenden Technologien

- bei Social-Risiken:

  • Umgang mit Arbeitnehmerrechten und -schutz
  • Fragen der Produktqualität
  • Berücksichtigung der Lieferketten, zum Beispiel hinsichtlich Kinder- oder Zwangsarbeit
  • Moralische Aspekte wie Blutdiamanten, Streumunition, Tabak
  • Stiftung von Nutzen für die Gesellschaft

- bei Governance-Risiken:

  • Verantwortungsvolle Unternehmensführung
  • Transparenz und Offenlegung
  • Organisation, beispielsweise ausreichende Funktionstrennung

Anhand des Templates für den ESG-Gesamt-Score lässt sich für jede Teilmenge des Portfolios eine Entscheidung über die tatsächlich relevanten Indikatoren treffen. Für eine Bewertung kommen zunächst öffentlich verfügbare Daten infrage, für viele einzelne Scores sind aber separat bereitgestellte Informationen nötig. Im Privatkunden- und KMU-Bereich wäre an obligatorisch in den Kreditprozess eingebundene Fragenkataloge zu denken. Abhängig von Produkt und/oder Kunde kann aber auch die Beschaffung weiterer Fakten nötig sein, etwa aus dem Internet oder von Social-Media-Accounts. Immer häufiger kommen an dieser Stelle Verfahren der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz.

Leitlinien zur Einhaltung der Vorgaben

In Beziehung zu den Vorgaben aus der Risikostrategie gesetzt, ergeben sich aus den ESG-Ist-Scores Handlungsmaxime für die nähere Zukunft. Wichtig ist, allen Beteiligten Leitplanken, beispielsweise für die Kreditvergabe, durch Zielgrößen für den ESG-Score des Portfolios zu setzen. Je nach Organisation empfiehlt sich eventuell die Implementierung eines ESG-Beauftragten oder eines ESG-Boards inklusive klar festgelegtem Verantwortungsbereich und Geschäftsordnung.

Ohne Szenarioanalysen und Stresstests wird es nicht gehen

Für eine langfristige Perspektive wären historisch verlässliche Datenreihen zu den Auswirkungen von Klima- und Umweltphänomenen wünschenswert. Da der Klimawandel und seine Folgen jedoch in der Menschheitsgeschichte einmalig sind und keine wirklich verlässlichen Daten vorliegen, bietet sich für die Institute der Rückgriff auf Szenarioanalysen und Stresstests an. Neu implementierte Szenarien sollten dabei möglichst konsistent und für die Risikoquantifizierung nachvollziehbar gestaltet sein. In allen Risikoarten sind zukünftig ergänzende Szenariorechnungen für ein umfassendes Bild möglicher Auswirkungen von ESG-Risiken erforderlich. Ratsam ist auch eine Übertragung der für eine Risikoart entwickelten Szenarien auf andere, einschließlich einer entsprechenden Prüfung der Effekte. Für eine valide Aussage über die zukünftige Risikosituation für Kapital und Liquidität durch transitorische ESG-Risiken ist dies sogar unumgänglich. Nur durch dergestalt umfangreiche Szenarioanalysen sind Management und Organe zu einer rechtzeitigen Justierung der Geschäftsstrategien in der Lage.

Whitepaper
Detaillierte Informationen zum Thema finden Interessierte im Whitepaper „Nachhaltigkeitsrisiken richtig einordnen“. Es steht auf der Website der PPI AG kostenlos zum Download zur Verfügung